Metabasis N. 36
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Fragmente 4

Rezensionen

Harald Welzer, Das kommunikative Gedächtnis, Eine Theorie der Erinnerung

Beck’sche Reihe, 2005, € 14,90

Tiziana Gislimberti

Was die Welt im innersten zusammenhält, ist Kommunikation, genauer gesagt das unerschöpfliche und spezifisch menschliche Potential, Netzwerke direkter und indirekter, enger und loser, naher und ferner Verbindungen herzustellen“ (S. 10)

Der Autor geht davon aus, dass menschliches Leben durch Kommunikation geprägt ist und dass die Entstehung von Subjektivität und Bewusstsein ohne Kommunikation nicht möglich wäre, weil  sie „ im Dialog zwischen mehreren Gehirnen“ liegt  und deswegen  nicht rein neurobiologisch erläutert werden kann.

Welzer bezieht sich auf die Arbeiten von Jan und Aleida Assman und betont, wie wichtig die Definition vom „kulturellen Gedächtnis“ - ausgehend von Maurice Hallwachs Bezeichnung des „kollektiven Gedächtnisses“ - für die wissenschaftliche Diskussion gewesen ist. Er knüpft daran an, dass „kulturelles“ und „kommunikatives“ Gedächtnis „nur analytisch zu trennen“ sind. „In der Erinnerungspraxis der Individuen und sozialen Gruppen hängen ihre Formen und Praktiken miteinander zusammen, weshalb sich die Gestalt des ‚kulturellen Gedächtnisses’ auch – zumindest über längere Zeitabschnitte hinweg – wandelt, indem bestimmte Aspekte ab- und aufgewertet und wieder andere neu hinzugefügt werden“. (S. 15)

Während sich Jan Assman, dessen Definition deutlich auf die kommunikative Praxis  von Gruppen und Gesellschaften bezogen ist,  mit der Frage „wie das kommunikative Gedächtnis auf der Ebene des Individuums beschaffen ist“, nicht beschäftigt, geht Welzer gerade von dieser Frage aus.

Im ersten Teil des Buches versucht der Autor, die Entstehung, die Funktionsweise und die emotionalen Aspekte des Gedächtnisses zu zeigen, indem er auf die Ergebnisse der Neurowissenschaften und der kognitiven Psychologie Bezug nimmt.

„Derjenige Teil der neuronalen Entwicklung, der nicht genetisch festgelegt ist  [...] wird durch vielfältige Modi des Zusammenseins mit anderen gebildet, das heibt durch nicht-sprachliche und sprachliche Kommunikation“.

Dass unser Gedächtnis und seine Funktionsweise nicht  einem Computer ähnlich ist, der gespeicherte Informationen einfach wieder abrufen kann, ist schon lange festgestellt worden. Unser Gehirn speichert Informationen und Erfahrungen und ruft sie wieder ab durch die Aktivierung bei bestimmten Wahrnehmungsreizen von neuronalen Verschaltungsstrukturen. „Eine neuronale Verschaltungsstruktur ist also ein Netzwerk, innerhalb dessen Informationen weitergegeben und in einem komplexen Muster abgelegt werden, das bei einem erneuten gleichartigen Wahrnehmungsreiz wieder aktiviert wird“. Diese Verschaltungsstrukturen sind einerseits genetisch aus Gründen des Überlebens (Greifreflex, Saugreflex usw. - früher als ‚unbedingte Reflexe’ bezeichnet) voreingestellt, andererseits sind sie erfahrungsoffen.  Da jedoch diese Verschaltungsstrukturen je stabiler werden, desto häufiger sie aktiviert werden, liegt auf der Hand, dass die soziale Interaktion eine zentrale Rolle in der Entwicklung der Verschaltungsstrukturen des Gehirns eines jeglichen Kindes spielt. Und dass „Entwicklung, in diesem Sinne, sequentiell und hierarchisch“ ist. Und zwar in dem Sinne, dass das, „was an Muster angelegt wird, den Rahmen für die Etablierung neuer, darauf aufbauender Muster“ bildet. Wie der Neurobiologe Gerald Huethner betont, sind unsere neuronalen Verschaltungen bio-psycho-sozial bedingt. Obwohl die Wissenschaft noch heute weit entfernt davon ist, sie aufs Genauste zu beschreiben, kann man behaupten, dass, „das Kind (und sein sich entwickelndes Gehirn) nicht als etwas zu betrachten [ist], das ‚Informationen verinnerlicht’, die von auben hineinströmen, sondern dass es selbst immer schon Teil dessen ist, was es erfährt, weil es Erfahrungen immer nur in der Relation seiner selbst zu anderen machen kann“. (S. 69)

Schon was Trevharthe ‚protokonversationell’ und Stern ‚protonarrativ’ nennen, sind Interaktionsformen zwischen Kind und Bezugsperson, die die Basis schaffen, auf der sich jede zukünftige Interaktionsform weiterentwickeln kann. Später durch das Erreichen einer Stufe repräsentationaler Sprachkompetenz wird die Entwicklung eines autobiographischen Gedächtnisses allmählich möglich. Das ‚sich erinnern’ ist jedoch erfahrungsabhängig und damit kulturspezifisch: Individualisierung und Sozialisierung, Ontogenese und Soziogenese sind keine Gegensätze, sondern Teil  desselben Prozesses.

Also kurz zusammengefasst: „Das autobiographische Gedächtnis ist eine biopsychosoziale Instanz, die das Relais zwischen Individuum und Umwelt, zwischen Subjekt und Kultur stellt“. (S.119)

Bei der Bewertung von Erfahrungen und der Zuweisung von Bedeutungen fallen die Emotionen als entscheidende Faktoren aus. Wenn wir uns an etwas erinnern, speichern wir zugleich unsere Erinnerung als gut, schlecht, neutral usw. Also ist unser Erinnern immer mit einer emotionalen Dimension eng verbunden. Die Funktionsweise dieser emotionalen Ebene wird aufgrund der neurowissenschaflichen Theorie und der Experimente von Damasio erläutert , die zur begründeten Behauptung führt, dass das autobiographische Gedächtnis immer auch ein körperliches und emotionales Gedächtnis ist. Darüber hinaus zur Begründung, dass „wir ein autobiographisches Gedächtnissystem nicht als Spezialfall des episodischen Gedächtnisses verstehen können, sondern es als ein übergeordnetes System betrachten müssen, das sich im Wechselspiel von episodischen, semantischen, perzeptuellen, prozeduralen und priming-Gedächtnisfunktionen herausbildet und erhält“. (S. 144)

Aufgrund eines konkreten Beispiels des Neurologen  LeDoux -der   terminologisch  zwischen ‚emotionalen Erinnerungen’ (denjenigen Erinnerungen, die uns sozusagen  unbewusst sowie emotional gefärbt sind und auf körperlicher Basis beruhen – Emotion) und ‚Erinnerung an eine Emotion’ (explizite Erinnerung an ein emotional erschütterndes Erlebnis - Kognition) unterschieden hat  - lässt sich besser erklären, „dass Emotionen und Konigtionen auf unterschiedlichen Ebenen des Bewusstseins wirksam sind und auf unterschiedliche Weise handlungsleitend werden“. (S. 148)

Es wird  ein schwerer Autounfall geschildert: Der Fahrer ist schwer verletzt, beugt sich über das Lenkrad und die Hupe hört nicht mehr auf zu hupen. Später, nach dem Unfall, als der wieder gesund gewordene Verletzte einen ähnlichen Hupton hört , aktivieren sich gleichzeitig implizite und explizite Gedächtnissysteme. Implizit löst sich gleich eine körperliche Reaktion aus verbunden mit  Muskelanspannung, variierendem Blutdruck und beschleunigter Herzfrequenz, Transpiration usw. (Emotion- implizit). Kurz darauf erinnert sich der damalige Verletzte an die Umstände des Unfalls und an die Tatsache, dass es wirklich schlimm war (Kognition – explizit). Die Erinnerung an die Emotion und die Erregung beim Erinnern verschmelzen  „zum einheitlichen bewussten Erlebnis des Augenblicks“.

Dabei betont Welzer: „Dieses Phänomen ist äuberst bedeutsam für eine Theorie des kommunikativen Gedächtnisses, denn es entstehen auf diese Weise immer neue Erinnerungen an frühere Erinnerungen, die jeweils wieder auf dieselbe oder auf eine modifizierte Weise emotional getönt sein können. Erinnerung, so könnte man vor diesem Hintergrund formulieren, ist immer das Geschehnis plus die Erinnerung an seine Erinnerung“. (S. 148-9)

Kapitel VII und VIII erweitern die Perspektive von der Funktionsweise des individualen autobiographischen Gedächtnisses hin zur Rolle sozialer und kultureller Muster für die Entwicklung unseres Gedächtnisses.

Anhand veschiedener Interview- und Gesprächsbeispiele wird gezeigt, wie das Gedächtnis auch auf sozialer Ebene kommunikativ funktioniert. Man kann nicht einfach davon ausgehen, dass es einen Sender und einen Empfänger gibt, sondern man muss darauf achten, wie der Sender und der Empfänger miteinander umgehen, und das nicht nur auf sprachlich-bewusster Ebene, sondern auch unterhalb der Bewusstseinschwelle, wo kulturelle Schemata aktiviert werden.

Es wird weiterhin gezeigt, wie das Erzählen von Vergangenheit in der Familie nicht einfach als Weitergabe von Erlebnissen und Ereignissen zu verstehen ist, sondern „als gemeinsame Praxis, die die Familie als Gruppe definiert“. Dabei ist jede Vergangenheit, die durch und in der Familie tradiert wird, keine Information als einfaches Wissen, sondern Gewissheit  als emotionales Bild. Interessanterweise stellt sich heraus, dass viele Ereignisse und die bedeutendsten autobiographischen Erlebnisse oft nicht auf autobiographische Erinnerung zurückgehen, sondern aus anderen Quellen geliehen worden sind und in die eigene Lebensgeschichte hineingewoben sind.  Es wird gezeigt, wie unser Gedächtnis kommunikativ vesucht, eine kohärente narrative Struktur zustande zu bringen, d.h. „Organisationsprinzipien zu folgen, die sozial gebildet“  sind, und jene Lücken zu füllen, die die Kommunikation verhindern. Welzer behauptet, dass mediale Produkte (Filme, Fersehserien) „Wahrnehmungs- und Deutungsrahmen für Erlebnisse werden“, also anders ausgedrückt, Materialien, die dazu dienen die Lücken aufzufüllen. Aber nicht nur dies, sondern es ist auch festzustellen, dass unsere direkten Wahrnehmungen schon deutlich durch mediale Produkte beinflusst werden, indem sie gewisse Erwartungen aufbauen und uns einen Rahmen zur Deutung von Erlebnissen liefern.

„Normalerweise werden überlieferte Geschichten eher fragmentarisch und unter Hinzufügung eigener Lesearten und Variationen erzählt, so dass sie eine sinnhafte Perspektive aus der Sicht des Weitererzählens gewinnen; wenn aber fixierte und komplett bebilderte Modelle zur Illustration der entsprechenden Erlebnisgeschichten vorliegen, werden sie deckungsgleich mit den Vorstellungen, die der Zuhörer von den Geschehnissen hat“. (S. 203)

Das letzte Kapitel kehrt schlieblich zum individuellen autobiographischen Gedächtnis zurück und zeigt anhand von zwei Interviews, die im Abstand von 11 Jahren durchgeführt worden sind, wie die befragte Person (vor der Wende von Ostdeutschland nach Westdeutschland ausgewandert) die eigenen biographischen Erlebnisse  anders bewertet, je nach aktiviertem Interpretationsrahmen und je nach Erzählsituation, so dass verschiedene biographische Variationen entstehen können,  „weil das autobiographische Gedächtnis, ganz ähnlich wie das Familiengedächtnis, im Grunde eine Fiktion ist – in dem Sinne, dass es nicht als Einheit existiert, sondern wiederum als eine synthetisierende Funktionseinheit, die sich in jeder kommunikativen Situation auf jeweils neue Weise realisiert“. (S. 217)

Das Buch ist eine faszinierende Synthese aus verschiedenen Forschungsgebieten, reich an wissenschaftlichen Informationen, die mit Prägnanz und Klarheit vermittelt  und durch Hinweis auf  Experimente aus dem Gebiet der Neurowissenschaft und Neuropsychologie veranschaulicht werden.  Durch die Lektüre kann man sich wirklich ein Bild der Funktionsweise unseres Gedächtnisses und der kulturellen und sozialen Einbettung jeglichen „sich Erinnerns“ machen. Obwohl Harald Welzer Forschungsprofessor für Sozialpsychologie  ist, stellt er seine Forschungsergebnisse auf eine sehr einladende Weise vor, so dass auch der Leser, der über keine spezifischen wissenschaflichen Kompetenzen verfügt, das Buch höchst genussvoll lesen kann.

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